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07

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Plädoyer für Neustart im arbeitsmarktpolitischen Förderrecht

"Es gibt Entwicklungspunkte, an denen nur ein Reset helfen kann, aus einer völlig verfahrenen Situation herauszukommen", so das Fazit des Remagener Professors Stefan Sell zur Lage der arbeitsmarktpolitischen Förderung in Deutschland. Sein Vorschlag: Eine radikale Rechtsvereinfachung, die sich am alten Bundessozialhilfegesetz orientiert.

Das aktuelle Förderrecht in der Arbeitsmarktpolitik ist unübersichtlich und voll von zahlreichen, sich teilweise selbst gegenseitig lahmlegenden Schnittstellen, so die Bewertung von Stefan Sell, Professor für Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik und Sozialwissenschaften an der Hochschule Koblenz und Direktor des Instituts für Sozialpolitik und Arbeitsmarktforschung (ISAM) in seinem aktuellen Papier „Hilfe zur Arbeit 2.0".

Sell plädiert für eine Wiederbelebung der Paragraphen 18 - 20 des alten Bundessozialhilfegesetzes in einem neuen Sozialgesetzbuch II und ein Ende der seit Jahrzehnten grassierenden Programmitis.

"Fatale Entleerung des arbeitsmarktpolitischen Instrumentariums"
Sell kritisiert die Entwicklung der Arbeitsförderung seit den Hartz-Reformen. Höherwertige Förderinstrumente seien sukzessive abgeschafft, das Förderrecht immer restriktiver ausgestaltet und die Haushaltmittel für die Arbeitsförderung gleichzeitig halbiert worden mit dem Ergebnis einer „fatalen Entleerung des arbeitsmarktpolitischen Instrumentariums für die Arbeitslosen beziehungsweise erwerbsfähigen Leistungsberechtigten im SGB-II-System."

Zugespitzt formuliert stünde im SGB II-Bereich mit den umgangssprachlich „Ein-Euro-Jobs" genannten Arbeitsgelegenheiten heute nur noch ein Instrument der öffentlich geförderten Beschäftigung zur Verfügung. Das Zweite, die Förderung von Arbeitsverhältnissen, „bewege sich quantitativ gesehen im molekularen Bereich".

Die immer neuen Programme, die man parallel dazu auf den Markt werfe, seien zudem regelmäßig nur auf eine derart eingeengte Zielgruppe ausgerichtet, dass viele potenzielle Teilnehmer gar nicht passten, weil sie gegen irgendeines der Kriterien verstoßen.

Marktnähe, Flexibilität, Freiwilligkeit
Sell fordert daher ein radikales Umdenken. Ein funktionierendes Förderrecht in der Arbeitsmarktpolitik, das die Menschen auch tatsächlich fördert, fußt nach seiner Vorstellung auf den Kriterien
Marktnähe, Flexibilität und Freiwilligkeit.

Aktuell kranke die öffentlich geförderte Beschäftigung, zu der die Ein-Euro-Jobs zählen, an den förderrechtlichen Restriktionen von Zusätzlichkeit, öffentlichem Interesse und vor allem der Wettbewerbsneutralität sowie der radikalen Befristung der Maßnahmen. Diese würden an ihrem Erfolg bei der Integration in den ersten Arbeitsmarkt gemessen, seien aber durch die genannten Kriterien so weit entfernt von der „echten" Arbeitswelt, dass sie nicht einmal in die Nähe der gewünschte Integrationsfunktion gelangen könnten.

Sell setzt sich daher ausdrücklich für eine marktnahe öffentlich geförderte Beschäftigung ein, die individuelle Nachteile der Arbeitslosen mit Lohnkostenzuschüssen bei allen Arbeitgebern, nicht nur bei gemeinnützigen Unternehmen oder kommunalen Trägern, ausgleiche. „Wohl wissend, dass es hier um eine grundsätzliche Offenheit der Beschäftigungsförderung für alle Arbeitgeber geht, denn in der Praxis wird sich mit Blick auf den konkreten Personenkreis, um den es hier geht, im Regelfall bei vielen „normalen" Unternehmen die Frage gar nicht stellen, eine Förderung in Anspruch zu nehmen", so Sell. Deshalb brauche man professionelle Beschäftigungsunternehmen, die den anspruchsvollen Job einer sinnvollen Beschäftigung und Qualifizierung der Arbeitslosen übernehmen.

Förderketten statt isolierter, befristeter Maßnahmen
Für mehr Flexibilität in der Förderung würde eine Wiederbelebung der Paragraphen 18 bis 20 des alten Bundessozialhilfegesetzes sorgen, erklärt Sell, denn in ihnen seien zum einen die Arbeitsgelegenheit nach Mehraufwandsentschädigung („Ein-Euro-Jobs") enthalten, die man arbeitstherapeutisch nutzen könne und zum anderen Arbeitsgelegenheiten mit sozialversicherungspflichtigen Entgelt bis hin zu individuellen Lohnkostenzuschüssen an Arbeitgeber, die man im begründeten Einzelfall verlängern könne. Zusammen mit Qualifizierungsmöglichkeiten „hätte man den gesamten Instrumentenkoffer zur Verfügung, mit dem sich dann die von vielen Praktikern dringend angemahnten Förderketten strukturieren ließen."

Über Arbeitsgelegenheiten und dann sozialversicherungspflichtige Beschäftigung möglichst „am und mit dem ersten Arbeitsmarkt" könne so der potenzielle Übergang in eine Beschäftigung in normalen Unternehmen vorbereitet und realisiert werden. Gleichzeitig müsse es aber auch „Teilhabe-Arbeitsplätze" geben, die sich an Menschen richten, die trotz Wunsch nach Arbeit „so weit weg sind von den Anforderungen der Unternehmen, dass sie mittel- und langfristig nicht mehr von dort aufgenommen werden."

All diese Angebote der Arbeitsförderung sollten unbedingt freiwillig sein. Die aktuelle Sanktionierungspraxis bei Personen, die eine Teilnahme ablehnen, hält Sell grundsätzlich und besonders angesichts des Angebots-Nachfrage-Dilemmas bei der öffentlich geförderten Beschäftigung für sinnlos. Es gebe unter den Erwerbslosen viele, die gerne einer sinnvollen Beschäftigung und Qualifizierung nachgehen wollen, aber gar keine Angebote bekommen.

Sinnloser Wildwuchs und Programmitis müssen aufhören
Und was, wenn nichts in diese Richtung gehend passiert? Sell ist pessimistisch: „Dann wird es weiter gehen mit der unseligen Expansion des selbst für ausgewiesene Experten völlig unübersichtlichen Förderrechts … und parallel dazu wird das manifeste Krankheitsbild der deutschen Arbeitsmarktpolitik fortgeschrieben und es wird weitere Blüten treiben: die Programmitis, die mittlerweile einen hyperkomplexen Raum der Sonderprogramme ausdifferenziert hat, die jegliche Effektivitäts- und Effizienzmaßstäbe an sich abprallen lassen."

Stefan Sell: Hilfe zur Arbeit 2.0 - Plädoyer für eine Wiederbelebung der §§ 18-20 BSHG (alt) in einem SGB II (neu)

Quelle: O-Ton Arbeitsmarkt

06

19

Von individuellen und institutionellen Hürden. Der lange Weg zur Arbeitsmarktintegration Geflüchteter

Die Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten gelingt derzeit zwar besser als anfangs erwartet, bleibt aber schwierig.

Aufgrund der Fluchtsituation haben die Menschen individuelle Hürden im Gepäck, zum Beispiel mangelnde Sprachkenntnisse oder fehlendes Wissen über den deutschen Arbeitsmarkt.

In Deutschland angekommen, finden sie dann zusätzliche, institutionelle Hürden vor, die Politik und Verwaltung aufbauen. Die Sachlage in letzterem Bereich lässt sich in drei Thesen zusammenfassen:

  • Die Zuständigkeiten sind über zu viele Akteure verteilt,
  • die Gesetzeslage ist zu komplex und
  • die Anforderungen an die Geflüchteten sind zu restriktiv.

Hier muss die Politik nachbessern.

Das Papier basiert auf zwei Workshops und zahlreichen Einzelinterviews mit Geflüchteten sowie mit Experten aus Politik und Verwaltung, Wirtschaft und Zivilgesellschaft.

Hier geht's zum Discussion Paper des Berlin-Instituts.